Wie uns Cola hilft, komplexe Phänomene zu beschreiben
Zur Auslegung von Sicherheitsventilen und Berstscheiben für schäumende Medien
Die Absicherung von Druckbehältern mit mechanischen Sicherheitseinrichtungen kann bei Einsatz schäumender Medien zur Herausforderung werden, und zwar unabhängig davon, ob es sich um typische Schaumbildner wie Tenside handelt oder durch Gase wie CO2 oder N2 zur Schaubildung angeregte Fluide. Die Schaumbildung selbst kann auf verschiedene Arten entstehen: durch Eindüsen von Gas, Verdampfen von Flüssigkeit, Zersetzung einzelner Komponenten unter Gasbildung oder auch durch starkes Rühren der Flüssigphase.
Die so entstehenden Schäume sind im günstigen Fall instabil, haben eine niedrige Oberflächenspannung und zerfallen nach kurzer Zeit wieder. Instabile Schäume sind für die Anlagensicherheit häufig unproblematisch. Anders sieht es bei stabilen Schäumen aus. Sie können im Entlastungsfall bis an den Eintritt der Sicherheitseinrichtung reichen und führen immer auch einen Flüssigkeitsanteil mit. Die Sicherheitseinrichtung kann entsprechend zweiphasig durchströmt werden. Der Colaflaschen-Effekt kann hier als Analogie nützlich sein, um den Zusammenhang zwischen Schaumbildung und Zweiphasenströmung bei der Entlastung durch Sicherheitsventile und Berstscheiben zu erklären.
“Bitte nicht schütteln!”
Den Effekt kennt jeder: Beim Schütteln einer Colaflasche und anschließendem Öffnen des Deckels presst das entlöste CO2 einen Teil der Flüssigkeit mit durch die Öffnung – eine zweiphasige Entlastung wie wir sie häufig bei Druckbehältern und Reaktoren erwarten. Das Experiment mit der Colaflasche führt uns die wichtigsten Einflussfaktoren für das Auftreten von Zweiphasenströmungen in Behältern vor Augen:
- Geringe Füllstände: Ist die Colaflasche nur gering gefüllt, führt das Schütteln der Flasche und das Öffnen des Deckels zwar zu einem Aufschäumen der Cola, der Schaum erreicht allerdings nicht die Öffnung. Zu beobachten ist lediglich ein einphasiges Abströmen des CO2.
- Langsames Öffnen: Wird die Colaflasche geschüttelt und der Deckel anschließend langsam gelöst, kann das gelöste CO2 zunächst ohne starkes Aufschäumen entweichen, anschließend kann die Flasche gefahrlos geöffnet werden. Aber aufgepasst: Natürlich muss die Öffnung immer groß genug sein, um den erforderlichen Massenstrom abführen zu können.
- Gasbildungsrate: Wird die Colaflasche ohne Schütteln geöffnet und eine Zeit lang stehen gelassen, sinkt der CO2-Gehalt. Bei einer Wiederholung des Schüttel-Experiments, wird entsprechend weniger CO2 aus der Flasche entweichen, die Schaumbildung ist geringer.
In der Praxis der Anlagensicherheit wird die Gasbildungsrate häufig in reaktionskalorimetrischen Versuchen bestimmt. Daneben kann Schaumbildung in offenen Versuchen bei der Entlastung aus Sicherheitseinrichtungen bereits im Vorfeld bestimmt werden.
Druckanstieg trotz geöffneter Sicherheitseinrichtung!
Problematisch ist bei der Schaumbildung die zweiphasige Entlastung. Die niedrigere Strömungsgeschwindigkeit im Gegensatz zum reinen Gas kann dazu führen, dass der Schaum den freizugebenden Querschnitt der Sicherheitseinrichtung verblockt. In der Folge kann nicht genügend Massenstrom aus dem System abgeführt werden und der Druck steigt trotz geöffneter Sicherheitseinrichtung.
Eine Erhöhung des abzuführenden Massenstroms bei Zweiphasenströmungen mit schäumenden Fluiden kann noch aus anderen Gründen erforderlich sein. Durch starke Schaumbildung kann beim Ansprechen der Sicherheitseinrichtung durch schlagartiges Sieden der Flüssigphase oder Entlösen von Intergasen ein Großteil der Flüssigkeit im Reaktor mitgerissen werden. Neben der Schaumbildung tritt dieses Phänomen insbesondere bei hochviskosen Medien (η > 100mPas) auf und wird Aufwallen der Flüssigphase genannt. Es ist bei der Auslegung der Sicherheitseinrichtung und Rückhaltesysteme zwingend zu berücksichtigen. Der Reaktorinhalt kann bei der Entlastung fast komplett entleert werden und der abzuführende Massenstrom steigt stark an. Das erfordert eine Sicherheitseinrichtung mit größerem Querschnitt [1].
In der Industrie wird bei schäumenden oder hochviskosen Medien die Sicherheitseinrichtung standardmäßig mit dem homogenen Entlastungsmodell für zweiphasiges Ausströmen nach ISO 4126-10 [2] bzw. DIERS [3] ausgelegt. Die hier vorgestellte Methode, führt jedoch oft zu extrem großen Querschnitten der Sicherheitseinrichtungen sowie großen Volumina aller nachgeschalteten Einrichtungen [4]. Hierdurch können einerseits die Kosten in die Höhe schnellen, andererseits übersteigt der benötigte Entlastungsquerschnitt je nach Anwendungsfall die größten am Markt erhältlichen Sicherheitseinrichtungen. Eine Absicherung mit mechanischen Sicherheitseinrichtungen ist dann nicht möglich.
Gerade für niedrigviskose Medien und instabile Schäume können je nach Anwendungsfall genauere Berechnungsmethoden oder Versuche in offenen Kalorimetern zu kleineren Entlastungsquerschnitten führen. Zusätzlich können alternative Absicherungsmöglichkeiten wie z.B. PLT-Sicherheitseinrichtungen, Notstoppsysteme oder Quenche im Designprozess in Betracht gezogen werden. Die Bewertung der anzuwendenden Methoden und Absicherungen ist jedoch im Einzelfall von Experten vorzunehmen, da eine Fehleinschätzung zu unzureichender Absicherung führen kann.
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Literatur:
[1] G. Wehmeier, F. Westphal, and L. Friedel, “Pressure Relief System Design for Vapour or Two-Phase Flow,” IChemeE Symp. Ser., vol. 134, pp. 491–503, 1998.
[2] DIN Deutsches Institut für Normung e. V, “Sicherheitseinrichtungen gegen unzulässigen Überdruck – Teil 10: Auslegung von Sicherheitsventilen bei Zweiphasenströmung (flüssig/gas) (ISO 4126-10:2010); Text Deutsch und Englisch,” Berlin, 2019.
[3] H. G. Fisher et al., Emergency Relief System Design Using DIERS Technology. Wiley, 1993.
[4] J. Schecker and L. Friedel, “Untermodell für das Aufwallen von schäumenden Gemischen bei Druckentlastung,” Forsch. im Ingenieurwesen/Engineering Res., vol. 69, no. 1, pp. 44–56, 2004.
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Quellenangabe zum Bild “Cola”: Bild von jcomp auf Freepik